Abschiebung und Rückkehr | Eine Heimatgeschichte

Abschiebung und Rückkehr
Eine Heimatgeschichte


2006 wurde Celestine Kpakou aus Deutschland abgeschoben, sieben Jahre lang lebte sie in Togo. Vor drei Wochen durfte sie endlich zurück.

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von Marian Blasberg        |        Januar 2014        |      Quelle/Artikel:  Die Zeit 03/2014
 
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Celestine in ihrem Haus in Togo, wenige Tage vor ihrem Flug zurück nach Deutschland  |  © Monika Höfler

Am Tag, als sich Celestine Kpakou fertig macht, um in ihr altes Leben zurückzureisen, wirft sie einen schmuddeligen Koffer auf ihr Bett. Sieben Jahre hat sie auf diesen Tag gewartet, hat ihn herbeigefleht in ihren nächtlichen Gebeten, wenn sie wach lag, oder wenn sie Hunger hatte oder Sehnsucht nach den Freunden, ihrem Vater oder einfach nur nach einem Döner, und jetzt ist dieser Tag endlich da, und sie erschrickt, als sie den Koffer öffnet, um mit dem Packen zu beginnen.

Celestine tritt einen Schritt zurück. Sie faltet ihre Arme vor der Brust, und ihre Augen wandern über das Gepäckstück. Durch die halb geöffneten Lamellen fällt das schwache Morgenlicht auf ihr hübsches, ebenmäßiges Gesicht. Draußen im Hof dudelt aus einem Radio afrikanischer Reggae.

"Schon komisch", murmelt sie. "Ausgerechnet dieser Koffer. Das ist derselbe, mit dem ich damals hergekommen bin. Ich hatte Winterjacken eingepackt. Für Afrika! Wie dämlich war das denn!"

Zwanzig Minuten ließen ihr die Polizisten damals, im September 2006, als sie ernst machten mit der Auffassung der deutschen Behörden, dass Celestines Heimat nicht in Deutschland ist, sondern in Togo, Westafrika. Es war fünf Uhr in der Frühe, Scheinwerfer waren auf das Haus in dem kleinen hessischen Ort Cölbe gerichtet, in dem Celestine mit ihrer Familie seit 13 Jahren lebte. Es musste schnell gehen, und wie in Trance stopfte sie ein paar Sachen in den Koffer, dicke Jacken, Wollpullover, ihren Stoffhund, als wäre sie nur mal eben weg auf Klassenfahrt, Kartoffelferien in der hessischen Provinz. Das Gefühl zu sterben kam erst später.

Ein Aufschrei ging damals durch die Region. Freunde zogen mit Protestplakaten vor das Marburger Rathaus, die Zeitungen schrieben, dass man eine Familie nicht mal eben so verpflanzen könne, nicht nach so langer Zeit. An Bord des Abschiebecharters waren neben Celestine, ihren Schwestern Joyce, Belinda und Rebecca und ihren Brüdern Richie und Kokou noch 26 weitere Afrikaner aus ganz Europa. Ihre Mutter, ihr kleiner Bruder Panajotis, der in Deutschland auf die Welt gekommen war, sowie ihre Schwester Gertrud und deren einjährige Tochter Naomi wurden mit einer Linienmaschine ausgeflogen. Man wollte den Kleinen die traumatisierende Erfahrung der ersten von einer deutschen Ausländerbehörde organisierten Sammelabschiebung ersparen (ZEITmagazin Nr. 3/08). Aufgrund einer Krankheit wurde Celestines Vater nicht abgeschoben, er blieb.

Celestine war 19 damals, ein stilles, zielstrebiges Mädchen, für das am Ende dieses Sommermärchensommers das letzte Jahr in der Realschule angebrochen war. Nach dem Abschluss wollte sie eine Ausbildung als Zahnarzthelferin beginnen, in der Praxis, wo sie hospitiert hatte, und sie träumte von einem Urlaub in der Karibik. Togo, die Heimat ihrer Eltern, kannte sie nur noch aus dem Fernsehen. Kurz vor ihrer Abschiebung lief auf Sat.1 eine Survival-Doku-Soap, Wie die Wilden – Deutsche im Busch. Celestine und ihre Schwestern lachten über diese Berliner Familie, die man in Togo bei einem Stamm ausgesetzt hatte, wo sie Hundefleisch essen und ihre Tochter verkaufen sollte. Doch nun konnten die Kpakous, anders als die Menschen im Fernsehen, nicht nach zwei Wochen einfach aufgeben und in einen Flieger steigen, der sie nach Hause bringt. Deutschland und Europa haben einige Hürden eingezogen, die den Weg zurück versperren. Wer abgeschoben wurde, muss den Behörden bei der Wiedereinreise die Kosten seiner Abschiebung erstatten, in der Regel rund 10.000 Euro. Zudem gilt für den Schengen-Raum ein fünfjähriges Einreiseverbot.

Celestine öffnet den Schrank. Sie langt nach ein paar bunten Tüchern und schichtet sie in ihren Koffer, dessen Anblick immer mehr verstaubte Bilder aus der Vergangenheit aufwirbelt.

"Ausgelacht haben uns die Menschen hier", sagt sie. "Als Versager, die es in Deutschland nicht geschafft haben. Die mit nichts als Wintersachen kamen und nicht mal ihre Sprache konnten."

Afrika war keine Survival-Doku-Soap, es war ein Zeitloch, das die Jahre verschluckte. Celestine ist mittlerweile 26, eine junge Frau, der die alten Kleider nicht mehr passen, weil das afrikanische Essen zu fettig ist. Während sie auf Facebook mitbekam, wie das Leben ihrer Freunde Fahrt aufnahm, hockte sie in einer dunklen Klitsche in Togos Hauptstadt Lomé an einer Nähmaschine und lernte schneidern. Ihre Freunde posteten Babyfotos, Bilder von Konzerten, Kinoabenden, Einfamilienhäusern, Celestine verkaufte manchmal über Monate kein Kleid. Ihre Miete finanzierte ein Unterstützerkreis aus Deutschland, eine Gruppe ehemaliger Nachbarn und Lehrer.

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Es ist leichter, ein afrikanisches Leben in zwei Koffer zu packen, als ein deutsches

Celestine lebte in Djidjolé, einem der ärmeren Viertel am Stadtrand von Lomé. Djidjolé heißt "Ort der Freude". Es gibt hier weder Kinos noch Konzerte. Die Straßen sind aus roter Erde, und die Männer, die auf den Plastikstühlen in den Bierbaracken rumhängen, suchen alles, nur keine Frau mit eigenem Kopf. Celestine teilte sich ein Schlafzimmer mit ihrer Schwester Joyce. Wenn sie im Wohnzimmer an ihren Nähmaschinen saßen, zwischen Stoffbergen und Schnittmustern, blickten sie durch ein Fenster auf die grauen, mit Stacheldraht besetzten Mauern eines Hinterhofs.

"Ich hatte über all die Jahre nur einen Wunsch", sagt Celestine: "Ich wollte einfach nur hier raus."

Dann steigt sie auf das Bett und tastet mit ausgestrecktem Arm oben über den Schrank, wo sie ihren Pass versteckt hat. Sie klappt den Pass auf, als wolle sie sich vergewissern, dass ihr Visum noch immer an der Stelle ist, wo es die Dame in der deutschen Botschaft eingeklebt hat: Visum Nr. 044632805, gültig ab Freitag, den 13. Dezember 2013. Reisegrund: Familiennachzug. Lächelnd steckt sie den Pass in ihre Bibel. "Ich kann es immer noch nicht glauben", sagt sie. "Wie schnell das alles ging."

Das erste Mal traf sie Arnaud* an einem Tag im November 2012, er hatte sich bei ihr gemeldet, weil ihm deutsche Freunde einen Koffer für sie mitgegeben hatten, voll mit Shampoos, Cremes und Schokolade. Celestine mochte ihn sofort, obwohl er 14 Jahre älter ist als sie. "Er ist ein Stiller", sagt sie. Einer, der die Frauen respektiere, obwohl er ein Togoer ist. Arnaud lebt seit elf Jahren in einer kleinen Stadt bei Mannheim; nachdem Deutschland ihm Asyl gewährt hatte, wurde er eingebürgert. Sie gingen aus und sprachen viel, und ein paar Wochen später fragte er, zurück in Deutschland, in die Kamera seines Computers, ob sie nicht seine Frau werden wolle.

Im September war er wieder da. Verlobung. Die Hochzeit mit 150 Gästen im Haus seiner Familie. Im Oktober stellten sie den Antrag auf das Visum. Arnaud erklärte bei der deutschen Botschaft, dass er bürgen würde, falls Celestine in Deutschland etwas zustößt. Sie hatten Fragen: In welcher Straße wohnt dein Mann? Was steht auf seinem Klingelschild? Was ist seine Lieblingsfarbe? Der Bundestagsabgeordnete Sören Bartol, der früher an Celestines Schule unterrichtet hat, erklärte in einem Brief, dass man sich den Deutschkurs bei ihr sparen könne.

Tagelang hat Celestine Listen abgearbeitet. Sie hat ihr Schneiderinnen-Diplom übersetzen und vom Notar beglaubigen lassen. Gestern war sie noch mal im Büro von Royal Air Maroc, um nachzufragen, ob der Flug auch wirklich geht, und jeden Tag tauchen Leute bei ihr auf mit Sachen, die sie Freunden in Deutschland mitbringen soll, Palmöl, Zitronengras, einen ganzen Afroshop. Es ist leichter, ein afrikanisches Leben in zwei Koffer zu packen, als ein deutsches. Es sammelt sich weniger an. "Celly", ruft ihre Schwester Joyce von nebenan, "hast du an den Tesa-Film gedacht, um den Stinkefisch geruchsdicht zu verpacken?" – "Mist."

Seit Tagen ist Celestine so überdreht, dass sie nachts kaum schläft. Sie ist beunruhigt, weil immer noch nicht klar ist, was mit den Kosten für die Abschiebung sein wird. Sie fürchtet, dass man sie deshalb bei der Einreise am Flughafen festhalten wird. In der Stille kommen die Gedanken. Sie fragt sich, wie das ist, zurückzufliegen in das alte Leben. Ob man das kann, nach sieben Jahren einfach so tun, als wäre man mal eben weg gewesen. Warum ausgerechnet sie Arnaud gefunden hat und nicht Joyce oder eine ihrer anderen Schwestern, die den gleichen Traum haben wie sie. Weil Gott es so gewollt hat, sagt sie sich dann, und um sich abzulenken, läuft sie in Gedanken ihre alten Wege ab. Tritt in der Schulstraße aus ihrem alten Haus und läuft die Lückenstraße runter, wo seit der Abschiebung ihr Vater wohnt, läuft vorbei an Fachwerkhäusern, vor deren Fenstern Blumenkästen mit Geranien hängen. Ob die Bonbon-Oma noch dort wohnt, bei der sie immer klingelten? Ob vielleicht schon Schnee gefallen ist? Schnee! Dann in die Alte Dorfstraße und weiter bis zum Bäcker Müller, der immer einen super Käsekuchen hatte. Es sind Wege, die sich eingebrannt haben in ihr Gedächtnis. "In Cölbe", sagt sie, "werde ich mich nie verlaufen."

Celestine war sechs, als sie 1993 mit ihren Geschwistern nach Deutschland kam. Es war die Zeit der Lichterketten nach den Anschlägen in Solingen und Hoyerswerda, und in Cölbe begrüßte man die Kpakous mit einem Willkommensfest. Celestines Vater beantragte Asyl, er hatte fliehen müssen, weil er in der Heimat Mitglied oppositioneller Zirkel gewesen war, die Flugblätter verfassten gegen eine blutige Diktatur.

Aber die hessischen Gerichte ließen sich Zeit. Sie seien überlastet gewesen, erklärten sie später. Man duldete die Kpakous so lange, bis es eine Entscheidung geben würde, und während dieser Jahre lebten sie sich ein. Celestine und ihre Geschwister besuchten deutsche Schulen, sie lernten, deutsch zu sprechen, und begannen, deutsch zu denken. Celestine verdiente sich ihr Taschengeld, indem sie auf die Nachbarskinder aufpasste. Richie, ihr jüngerer Bruder, war Klassensprecher auf dem Gymnasium. Joyce wollte Hotelfachfrau werden und Belinda Kindergärtnerin. Kokou spielte Fußball im Verein, Rebecca Handball. Es war eine Jugend, die sich von der Jugend ihrer deutschen Freunde nur dadurch unterschied, dass sie den Landkreis nicht verlassen durften.

Später, sagt Celestine, als sie älter wurde, habe ihr Vater immer wieder darauf gedrängt, dass sie sich einen Deutschen suchen sollte, um zu heiraten, aber immer wenn er damit kam, habe sie ihm gesagt: "Papa, lass den Scheiß! Ich heirate aus Liebe." Togo schien inzwischen zu weit weg. Sie dachte, dass 13 Jahre neue Fakten geschaffen hätten, aber heute weiß sie, dass deutsche Bürokraten einen anderen Begriff von Heimat haben. Dinge wie Freundschaften, gewachsene Beziehungen, die Art, wie man die Welt betrachtet, kommen darin nicht vor.

Jetzt, in den Tagen vor ihrer Rückkehr, sagt Celestine, habe sie manchmal an die Worte ihres Vaters denken müssen. Sie hat ein Hemd genäht für ihn aus einem roten, fröhlichen Stoff, ein großes Hemd, weil er auf den Fotos, die Arnaud von ihm gemacht hat, viel dicker aussieht, als er damals war. Die Medikamente haben ihn aufgeschwemmt. "Früher", sagt Celestine, "hatte er so viel Energie, aber dann ist er über Nacht ein alter Mann geworden."

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"Meine Perspektiven waren irgendwo bei null"

Am Abend der Abschiebung, als sie selber schon im Flugzeug saß, attestierte ihm der begleitende Arzt einen zu hohen Blutdruck. Weil es zu gefährlich war, ihn mitzunehmen, wurde er zurückgeschickt nach Cölbe, wo er seitdem die Tage auf der Bettkante verbringt, im Jogginganzug vor dem Fernseher. Zweimal hat Christopher Kpakou versucht, sich umzubringen. Er fühlt sich hilflos, weil er wegen seiner Herzprobleme keine Arbeit findet, mit der er die Familie in Togo unterstützen könnte. Er hält die Traurigkeit nicht aus, die Trennung von den Kindern. Nach Afrika zu reisen, verbieten ihm die Ärzte. Drei Mal, sagt Celestine, habe er heute schon angerufen. Er sei ganz aufgeregt, dass sie jetzt kommt, aber sie selber habe ein bisschen Angst vor der Begegnung. "Es ist seltsam", sagt sie: "Neulich habe ich festgestellt, dass Arnaud eine ganz ähnliche Geschichte wie mein Vater hat. Vielleicht versteht er mich deshalb so gut."

Arnaud war Moderator einer Radiosendung in Lomé. Es war ein kritisches Programm, das Menschenrechtsverletzungen aufdeckte, Arnaud sprach über Korruption und Folter. Es war die Zeit, als sich Faure Gnassingbé, der Sohn des alten Präsidenten, der 40 Jahre lang das Land regiert hatte, selbst zum Präsidenten wählen ließ. Unruhen brachen aus, Hunderte Menschen starben in den Straßen von Lomé. Arnaud musste fliehen. Als er Celestine den Koffer brachte, war er das erste Mal zurückgekehrt. Er war da, um seinen Vater zu beerdigen.

Arnaud nahm Celestine mit, als er alte Freunde im Gefängnis aufsuchte. Er erzählte ihr, dass er in Mannheim eine kleine Tochter habe, die er einmal in der Woche sehe. Er sei einsam, sagte Arnaud. "Er ist der erste Mann", sagt Celestine, "dem ich vertraue." Vertrauen zu haben ist etwas, das ihr schwerfällt seit der Abschiebung.

Nie seit ihrer Ankunft in Lomé, sagt sie, habe sie einen Freund gehabt. "Afrikanische Männer wollen keine unabhängigen Frauen. Die stört, dass ich so viel rede."

Manche hatten sie schon komisch angeguckt, weil sie mit 26 Jahren immer noch alleine war. Sie tuschelten, dass irgendwas mit ihr nicht stimme, aber Celestine erschien es zu kompliziert, ihnen zu erklären, dass ein Mann bislang noch nicht in ihr Konzept passte. Celestine musste nach der Ausbildung erst einmal unabhängig werden von den Überweisungen aus Deutschland. Ein letztes Mal hatte ihr der Unterstützerkreis eine größere Summe geschickt, und sie investierte das Geld in eine eigene Nähmaschine und in Stoffe. Sie wollte Kleider nähen, die Bekannte mit nach Deutschland nehmen und dann dort verkaufen sollten, aber die Sache, sagt sie, "ging völlig schief". Die Kleider vergammelten in deutschen Kellern, und wenn mal jemand etwas kaufte, dann wartete sie eine Ewigkeit auf die Bezahlung. Sie stand wieder am Anfang. Sie überlegte, sich eine Anstellung zu suchen in einer der vielen Tausend Schneidereien in Lomé, aber das machte wenig Sinn, weil ihr Lohn schon für die Fahrtkosten draufgegangen wäre. Um einen eigenen Salon zu gründen, hätte sie einen Namen gebraucht und ein kleines Vermögen für das Inventar und die Genehmigungen, die sie bei korrupten Beamten hätte kaufen müssen.

"Meine Perspektiven waren irgendwo bei null", sagt Celestine. Dies war der Punkt, an dem die Nummer von Arnaud im Display ihres Handys aufleuchtete.

"Er ist eine gute Wahl", sagte ihre Mutter. "Und du bist jetzt alt genug."

Es ist fast Mitternacht, als Celestine ihr Gepäck in ein Taxi wuchtet. Den bunten afrikanischen Rock, den sie tagsüber getragen hatte, hat sie eingetauscht gegen eine enge Jeans. Die ganze Familie war am Nachmittag in den Hof gekommen, ihre Mutter kochte, und ihre Schwester Gertrud machte ihr drei Stunden lang die Haare. Gertrud flocht ihr Zöpfe dicht an den Kopf und nähte dann eine Perücke mit langen, offenen Haaren daran fest, mit der Celestine jetzt aussieht wie eine Filmdiva aus Hollywood.

Auf dem Weg zum Flughafen flattern ihre Haare im Fahrtwind, der durch das offene Fenster weht. Draußen flackern die Lichter der Stadt. Die Feuer am Straßenrand, die Leuchten der Motorradtaxis. Ein letztes Mal der süßliche Geruch der Tropen, dieses eigentümliche Gemisch aus Abgasen und verbrennendem Müll.

"Ich werde nichts vermissen", sagt Celestine.

Wenig später stehen sie und ihre Schwestern im Gewimmel vor dem Flughafen. Sie sind viel zu früh dran, aber Celestine wollte nichts riskieren.

"Ich hab es immer gehasst zu warten", sagt sie, auf den Wagen mit ihren Koffern gebeugt.

"Weißt du noch, wie wir früher immer auf die S-Bahn gewartet haben?", sagt Rebecca, die ihre kleine Tochter Anna, eingewickelt in ein Tuch, auf ihrem Rücken trägt.

"Oh ja, nach der Disco, wenn wir in Marburg den letzten Zug verpasst haben", sagt Celestine.

"Manchmal hab ich euch gesehen, morgens auf dem Weg zur Arbeit", sagt die Mutter, die am Marburger Bahnhof die Toiletten putzte. Sie würde selbst gerne zurück zu ihrem Mann, aber die Behörden erlauben die Familienzusammenführung nicht, weil Christopher Kpakou ohne Job nicht für sie bürgen kann. Sie könnte für drei Wochen fliegen, mit einem Besuchervisum, aber lohnt sich das? Lohnt es den Schmerz? 1.000 Euro für ein Flugticket, um sich danach wieder zu trennen? Von 1.000 Euro könnte sie in Afrika ein Jahr lang ihre Familie ernähren.

"Wie ich das vermisse, einem Zug nachrennen", sagte Celestines Bruder Richie vor ein paar Tagen, als er Rebeccas Tochter in den Kindergarten brachte. Mit schweren Schritten schlichen sie durch den heißen Sand, afrikanische Geschwindigkeit. Richie ist nicht mitgekommen zum Flughafen, weil er in der Dunkelheit aufs Haus aufpassen soll, aber es war ihm durchaus recht. Manchmal kommt es ihm so vor, als ob die Wörter Abschiede und Abschiebung durch ein unsichtbares Band verbunden seien. "Unsere Familie", sagt Richie, "zerstreut sich immer mehr. Ein Dutzend Leute, drei Kontinente."

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"Scheiße, ich bin tatsächlich wieder da"

Er selber ist mit seiner Mutter, mit Rebecca und Panajotis nach Ghana gezogen, ein paar Kilometer weit hinter die Stadtgrenze von Lomé, weil dort in der Schule auf Englisch unterrichtet wird. Kokou arbeitet in Accra auf dem Bau, und Belinda, die es vom ersten Tag an nicht aushielt in "diesem Scheißtogo", lebt heute in den USA. Sie hat einen amerikanischen GI geheiratet, den sie noch aus Deutschland kannte. Der Vater hockt in Cölbe, und jetzt geht auch noch Celestine.

Vergiss mich nicht, hat Richie ihr ins Ohr geflüstert, als er sie zum Abschied in die Arme schloss.

Er hatte den gleichen Traum wie Celestine. Richies Hoffnung war Jule, seine Jugendliebe, mit der er vor der Abschiebung zwei Jahre lang zusammen war. Jule war bei ihnen in der Schulstraße ein und aus gegangen, sie hatten Pläne für die Zukunft, aber irgendwann wurden die Abstände zwischen Jules E-Mails immer größer, klang ihre Stimme am Telefon immer fremder. Richie fragte sie, was los sei, und Jule antwortete, dass es jetzt jemand anderen gebe. Ob sie nicht trotzdem gute Freunde bleiben wollten? Richie lächelt. "Freunde geht vielleicht", sagt er. "Aber gute Freunde?" Während Jule bald ihr Logistikstudium abschließt, hängt Richie die meiste Zeit auf seinem Bett rum. Er hört Musik, stemmt seine Hantel, deren Gewichte er sich selbst gebaut hat, aus Tomatenbüchsen, die er mit Zement aufgefüllt hat. Er hat sich einen Kinnbart wachsen lassen. Richie, der immer ein offener und lustiger Junge war, wirkt deprimiert in diesen Tagen, still und in sich gekehrt. Im Sommer hat er Abitur gemacht, aber seit Wochen rennt er seinem Zeugnis hinterher. Es gehe nicht voran, sagt er, weil die Lehrer darauf warteten, dass er ihre Unterschrift bezahle. Sieben von zehn Fächern hat Richie zusammen. Für den Rest fehlt ihm zurzeit das Geld.

Kann Celestine in Deutschland etwas für ihn tun? "Ich weiß es nicht", sagt er. "Es wäre schön, aber ich will ja niemandem zur Last fallen."

Richie sagt, er habe nach Jule mal was mit einer Frau gehabt, doch er sei vorsichtig. Anders als Rebecca will er vermeiden, ein Kind zu bekommen. Es würde bedeuten, dass Deutschland in noch weitere Ferne rückt.

Vielleicht ist dies die größte Schwierigkeit nach sieben Jahren, nicht nur für ihn. Um anzukommen in der afrikanischen Wirklichkeit, müssten sie ihren Traum von einem deutschen Leben aufgeben. Sie stehen still in einer Zwischenwelt und warten, dass irgendwann einer wie Arnaud auftaucht und ihnen seine Hand entgegenstreckt.

"Der liebe Richie", sagt Celestine. "Ich will versuchen, an einer deutschen Uni ein Stipendium für ihn zu finden."

Es ist drei Uhr nachts, und Celestine sieht aus dem Fenster, wie die Lichter unter ihr langsam kleiner werden. "Welcome on board" leuchtet auf den Monitoren in der Maschine auf. "Welcome to Miami", hatten die Polizisten damals gefeixt, als man sie in Lomé aussetzte.

Nach fünf Minuten schläft sie ein.

Die Nacht ist wolkenlos und klar. Afrika, 11.000 Meter weiter unten, ein schwarzer Kontinent. Ruhig gleitet das Flugzeug über die Sahara, nimmt Kurs auf Casablanca, wo Celestine in eine andere Maschine umsteigt, die sie nach Frankfurt bringen wird. Celestine will auf der Abendschule ihren Abschluss nachholen, aber "Zahnarzthelferin", sagt sie, "das ist nichts mehr für mich. Ich brauche mehr Leute um mich rum. Wenn ich allein bin, spuken mir zu viele Fragen durch den Kopf." Das ist das, was sie vor allem aus Togo mitnimmt.

Ihre Pläne sind noch vage. Sie will die Dinge auf sich zukommen lassen, denn viel mehr als eine Rückkehr sei dies ein Neuanfang. "Reisebüro könnte was sein", sagt sie, irgendwo in einem Restaurant kochen oder auch weiter schneidern. Vielleicht ein eigenes Geschäft, in dem sie auch die Kleider ihrer Schwester Joyce anbieten könnte. Sie haben das mal angedacht, genauso wie die Sache mit Richies Stipendium, und vielleicht waren die Reaktionen ihrer Geschwister auf ihr Weggehen auch deshalb so positiv. Weil die Hoffnungen, die sie damit verbinden, größer sind als das Gefühl des Verlusts. Celestine ist jetzt ihre Brücke in die alte Heimat.

Dann Spanien. Die Pyrenäen. Schnee. "Wow", entfährt es Celestine.

Frankfurt liegt unter einer Wolkendecke, als das Flugzeug in den Sinkflug übergeht und schließlich im strömenden Regen auf deutschen Boden aufsetzt. "Mann, ist das hier ruhig", sagt sie auf dem Weg zu den Schaltern der Einwanderungsbehörde, die sie als Letzte von den Passagieren erreicht, weil sie sich noch mal umdreht, um das Flugzeug zu fotografieren, und weil sie langsamer geht als die anderen, in afrikanischer Geschwindigkeit.

Dann passiert sie die Grenze, ohne dass sie jemand nach den Abschiebekosten fragt, holt ihre Koffer vom Gepäckband und läuft durch den Ausgang, ihrem Mann entgegen, der im Anzug und mit einem Strauß Blumen auf sie wartet, neben ihm der Vater, gestützt auf einen Rollator, drei Freundinnen kreischen: "Celly!", und dann fallen sie sich in die Arme, legen Celly einen Schal über die Schulter, der Vater schluckt, und Celestine sagt mit Tränen in den Augen: "Scheiße, ich bin tatsächlich wieder da."

Ein paar Tage später schlurft Celestine mit einem Schnupfen durch die Fußgängerzone von Frankenthal, einer kleinen Stadt nicht weit von Mannheim. Helmut Kohl, der Kanzler war, als sie zum ersten Mal nach Deutschland kam, lebt um die Ecke. Deutsche Vorweihnachtsgemütlichkeit, der Geruch von Glühwein und gebrannten Mandeln. Als sie an einem Akkordeonspieler vorbeikommt, der Stille Nacht, heilige Nacht spielt, summt Celestine leise mit.

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"Komm doch erst mal an"

Jeden Tag geht sie ein bisschen vor die Tür, um sich an die Temperatur zu gewöhnen und an den Ort, in dem sie niemanden kennt. Nach Cölbe bräuchte sie zwei Stunden mit der Bahn, bislang war sie noch nicht dort.

Dann steuert sie ein Nordsee-Restaurant an, das sie gestern bei einer ihrer Erkundungstouren durch den Ort entdeckt hat. Sie will für Arnaud eine Box dieser frittierten Shrimps kaufen, die sie so liebt.

"An den ersten drei Tagen", sagt sie mit einem Grinsen, "hat er mir Döner mitgebracht, wenn er von der Arbeit kam." Döner war das Essen ihrer Jugend. Jedes Mal, wenn sie in Togo hungrig schlafen ging, hat sie davon geträumt.

Arnaud ist einer dieser vielen Afrikaner, die studiert haben, aber im Ausland nur eine Stelle finden, bei der ihnen ihre Bildung wenig nutzt. Er fährt im Schichtdienst Gabelstapler bei einer Firma, die Obst und Gemüse aus Afrika verpackt und an deutsche Supermärkte liefert. Die meiste Zeit, wenn er unterwegs ist, sitzt Celestine alleine in der Wohnung, die eigentlich eine Junggesellenbude ist, zwei kleine Zimmer in einem Nachkriegsbau, Zentrumsnähe.

"Immerhin", meint sie, "haben wir WLAN."

Sie chattet viel mit ihren Freundinnen, "mich zurückmelden", und wenn später in der Stille wieder die Fragen in den Kopf schießen, schaltet sie den Fernseher ein, aber "im Gegensatz zu früher, als ich 24 Stunden durchgucken konnte", sagt sie, "kann ich mich heute nicht mehr darauf konzentrieren".

"Einmal die frittierten Shrimps", sagt sie, als sie vor der Nordsee-Theke steht. "Die kleine Box bitte. Die für sechs Euro."

"Wahnsinn", murmelt sie wenig später, "wie teuer das hier alles ist." Die Käsestangen, die früher 60 Cent gekostet haben, kosten heute 1,20 Euro. Bei ihrem Bummel gestern schlich Celestine um die Kleiderständer im H&M, Arnaud hatte ihr Geld gegeben, von dem sie sich noch ein paar warme Sachen kaufen sollte, und dann entdeckte sie einen Pullover, der ihr gefiel, aber 30 Euro, dachte sie, das ist fast unsere Monatsmiete in Lomé. Sie brachte es nicht übers Herz. "Vielleicht im neuen Jahr", sagt sie, "im Winterschlussverkauf."

Sie vergleicht jetzt immer, wenn sie etwas kauft, und es verwirrt sie. Sie ist unsicher, wann sie sich etwas leisten darf und wann es besser ist, das Geld zu sparen, um es nach Lomé zu schicken. Sie sagt, sie vermisse ihre Geschwister, die Gespräche mit den Nachbarn bei ihnen im Hof, das kleine Mädchen, das gerade laufen lernte, es war immer etwas los. Sie fragt sich, ob es nicht sinnvoll wäre, den Vater herzuholen, weil es dann leichter wäre, sich um ihn zu kümmern. Besser aber wäre es, denkt sie, wenn ihre Mutter bei ihm sein könnte, dann läge die Verantwortung nicht nur bei ihr. "Vielleicht", sagt Celestine, "kann ich ja eines Tages für sie bürgen."

"Komm doch erst mal an", riet ihr Arnaud.

"Lern erst mal, für dich selbst zu sorgen", hat ihr Richie mit auf den Weg gegeben.

Es ist nicht leicht in diesen ersten Tagen. Celestine hängt wieder in einer Zwischenwelt. Ihr altes Leben ist vorbei, aber das neue hat noch nicht begonnen. Auch wenn sie diesmal mehr Zeit hatte zum Packen ihres Koffers, musste sie Dinge dalassen. Dafür hat sie anderes im Gepäck, von dem sie noch nicht weiß, was genau das ist. Niemand weiß, was all die Abschiede mit einem machen.

Sie sagt, sie würde gerne sofort loslegen, sich in der Schule anmelden und eine Näherei finden, um eigenes Geld zu verdienen und auch, weil es die Tage strukturieren würde, aber jetzt vor Weihnachten steht alles still. Selbst das Hallenbad, sagt sie, hat zu. Celestine will schwimmen gehen, sie will Gewicht verlieren. Sie will sich Togo langsam abtrainieren.

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*Name von der Redaktion geändert

Mitarbeit: Anita Blasberg
Quelle/Artikel:  Die Zeit 03/2014


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